Das Geräusch von kleinen Wellen, die immer und immer wieder stetig brechen. Wasser so weit das Auge reicht, doch es ist nicht karibikblau. Ein Meer aus dunklem Nass, das mit schierer Endlosigkeit tonlos alles zu verschlingen droht. Jedoch gibt es keinen lauten Knall, keinen Schrei, da ist nichts was das die Spannung und Angst bricht. Kein Boden, kein Ende, kein Halt.
Thalassophobie ist die Bezeichnung für Angst vor dem offenen Meer und dessen Tiefe. Das Gefühl von verloren sein inmitten des Ozeans ohne zu wissen, was unter einem lauert. Dieses Gefühl von Hilflosigkeit und Angst in Kombination mit dem Charakter des Meeres musikalisch einzufangen, hatten sich gegen 2014 einige Künstler im Netz zur Herausforderung gemacht. Jedoch wird diese untergehende Hilflosigkeit des Versinkens auch oft als Metapher für unsere Gesellschaft benutzt.
Dies war die Geburtsstunde des mittlerweile schon beinahe vergessenen Genres ,,Ocean Grunge‘‘.
Warum war das Genre so kurzlebig?
Dafür müssen wir einmal grob definieren, was Ocean Grunge überhaupt ist. Oberflächlich betrachtet besteht die Grundlage des Genres aus dem elektronischen Stil der Musik und die Stimmung der dazugehörigen Narrative – verlassen auf dem Meer zu sein. Der Horror mag hier für viele groß sein, doch die Flexibilität der Narrative ist es nicht. Schnell erschöpft sich der Pool an Ideen und Möglichkeiten, der Horizont des Musikstils ist also wahnsinnig klein, obgleich es durch diese spezielle Form eine einzigartige Nische geschaffen hat.
Tauchen wir also tiefer unter die Oberfläche
Die elektronische Musik in den 2010ern hatte einiges zu bieten, darunter auch das Mikrogenre Vaporwave, was effektiv aus verlangsamten und verkürzten Samples von 80er und 90er Smooth Jazz, Elevator, R&B und Lounge Musik der 80er und 90er bestand. Vaporwave ist mittlerweile ziemlich bekannt und noch immer sehr lebendig. Ein weiteres Beispiel für eines dieser elektrischen Mikrogenre stellte Seapunk dar, ein eher Hip Hop, Pop und R&B gewichteter Stil mit einer seltsamen aquatischen Ästhetik, das als Meme auf Tumblr erst an Bekanntheit gewann.
Klingt kurios? Nun, das Internet war in frühen 2010ern eine herrliche Freakshow.
Diese beiden recht unbekannten Stile, gepaart mit etwas Drone, Grunge und beladen mit einer Menge Distortion und Reverb ergaben unseren musikalischen Protagonisten, Ocean Grunge. Dieser klingt allerdings nicht immer gleich, denn selbstverständlich wurde das Thema oft aufgegriffen und unterschiedlich umgesetzt. Mal mehr oder weniger gut gelungen.
Folgend stelle ich euch drei Alben vor, die zwar alle in unser Genre fallen, allerdings sehr unterschiedlich umgesetzt worden sind.
Pacific Despair – Devour
In den ersten paar Sekunden des Operners ,,Dive In And The Surface Will Cease To Exist‘‘ war mein erster Gedanke nur: ,,Sind das Schreie zwischen all dem Distortion oder bilde ich mir das ein?‘‘ Auf eine beunruhigende Art grandios empfand ich den dritten Titel ,,Wallow‘‘. Wer schonmal das Vergnügen hatte, eine Panikattacke zu erleben, der rufe sich das Gefühl dieser vor Augen und stelle sich das Ganze in Slow Motion vor. Ein permanentes Engegefühl in der Brust zusammen mit unerklärbarer, nicht enden wollender Angst. Es ist wie ertrinken aus offenem Land. Wahnsinnig trippy. Einen sehr ähnlichen beunruhigenden Vibe hat Titel fünf ,,And They Turned Their Backs On The Lighthouse‘‘.
Kurzum: Devour sorgt zwar für ein großes Unbehagen, allerdings wäre ein bisschen mehr Bezug zum eigentlichen Thema Ozean schön gewesen. Damit macht sich das Album eher zu einem Wannabe des Genres.
Poseidon in Chains – Beneath the burning hands of god
Begrüßt wird der Hörer hier tatsächlich von dem Geräusch brechender Wellen. Im September 2014 veröffentlicht lautet die Beschreibung für das Album: ,,From the last remnants of the planet, around the year 2500‘‘. Eben dieses Gefühl wissen die fünf Titel auch zu vermitteln. Zwischen Möwenschreien, sphärischen Klängen und den Wellen breitet sich das Gefühl von Endzeit schnell aus. Allerdings wird es auch schnell langweilig. Er im dritten Titel ,,With blackened hearts, unrepentant‘‘ nimmt die Musik erst das Konzept von Angst mit auf, dies ist wiederum aber gut gelungen. Im Nachfolger sind Vocals etwas präsenter, darunter hauptsächlich Chantingsamples. So beginnt auch der letzte Titel ,,Farewell, ruined earth‘‘, ein sanfter Chor trifft hier auf steigendes Distortion, bis man plötzlich das Gefühl hat, dass die Tripods aus Krieg der Welten aus dem Wasser kommen.
Ein gelungenes Beispiel, wie die Umsetzung von Ocean Grunge gelingen kann!
Sea of Dogs – Through the Fog and the Driftwood
Ein Album mit großem Überraschungsfaktor, wenn man zuvor die beiden vorher erwähnten Alben gehört hat. ,,Through the Fog and the Driftwood‘‘ ist wahnsinnig dynamisch, vielleicht zu weilen auch einfach nur unruhig. Dabei bedient es sich an sehr vielen Samples und fußt deutlich auf den Wurzeln des Vaporwave, die achtziger Vibes sind sehr ausgeprägt. Die ersten beiden Titel haben mich ein wenig verwirrt dastehen lassen, zum Glück fängt das dritte Stück ,,It‘s over‘‘ dies wieder etwas auf. Nach dem fünften Titel war ich kurz davor zu sagen, dass dieses Werk deutlich zu fröhlich ist, bis ich bei dem Titel ,,Doom‘‘ angekommen und endgültig irritiert war. ,,Through the Fog and the Driftwood‘‘ ist wie ein neues Gericht, das man zum ersten Mal probiert und absoult nicht weiß, was man da vor sich hat oder ob man es mag. Summa summarum ein Hörerlebnis das schwer einzuordnen ist, aber dabei auch auf eine seltsame Art und Weise begeistert.
Alle Werke haben Charme
Devour mag zwar sehr den Ozeanbezug vernachlässigt haben, aber ich schätze es sehr für das Unbehagen, das es bereitet – es lässt schwer los. Indes Beneath the burning hands of god schon mehr auf das Thema abzielt und ein gutes Gefühl für das Verlorensein gibt, fehlt mir hier jedoch ein bisschen der Horrorfaktor, der in Devour sehr präsent war. Was genau Through the Fog and Driftwood war, weiß ich noch immer nicht, aber ich lade alle Leser herzlich zum Hören ein!
Wer das ultimative Hörerlebnis mit diesen Alben haben möchte, dem ist zu Kopfhörern, Einsamkeit und einem dunklen Raum geraten. Erst dann hat die Wirkung dieser Werke einen Platz sich wirklich zu entfalten und flutet die Sinne, denn schließlich ist und bleibt es Ambient. Ocean Grunge hatte, wie viele Genres, seine Zeit und fand eine eigene Nische dank der besonderen Narrative und ist nun fast vergessen, aber eben nur fast.
Wer dieser Tage auf Seiten wie Bandcamp nach dem Genre sucht, findet einiges, das als Ocean Grunge bezeichnet ist, jedoch wenig mit dem ursprünglichen Genre zu tun hat. Wer fündig werden will, muss hier tiefer als sechs Fuß graben, doch den Neugierigen erwarten hier und da düstere Werke, die Zeit und Raum vergessen lassen und den Hörer in ungewisse Tiefen ziehen…