Seit Ende der 90er veröffentlicht Thomas Hübner, den man heute vornehmlich als Clueso kennt, Musik und Texte. 2009 erschien „Gewinner“, die vierte Single seines Studioalbums „So sehr dabei“ – und bewegte mich sehr. Gold-Status! Zu Recht – wie ich fand. Der sympathische Kumpeltyp, der gern spontan in kleinen Clubs auftritt, singt unter Wasser von großen Gefühlen. Großen Verwirrungen … na, ja – er singt auf jeden Fall irgendwas. Aber was eigentlich? Was hat mich so bewegt am „Gewinner“?
An allem was man sagt, an allem was man sagt, ist auch was dran
Egal wer kommt, egal wer geht, egal es kommt nicht darauf an
Ich glaube nichts, ich glaub an dich, glaubst du an mich, ich glaub ich auch
Ich frage mich, ich frage dich, doch frag ich nicht, fragst du dich auch
Der erste Vers bereitet mir heute mehr Kopfzerbrechen als 2009. Wenn die Aussage „An allem was man sagt, an allem was man sagt, ist auch was dran“ einen Anspruch auf Wahrheit hat, müssen sich alle Juristen, die jemals mit Verleumdung oder dem sogenannten Rufmord zu tun hatten, starke Nerven behalten. Weil ja immer „etwas dran ist“, wäre also die Wahrheit durch den Akt bewiesen, dass man etwas sagt. Nimmt man den Text ernst, muss man ihm Fantasterei unterstellen. Bedeutet denn „ich habe ein echtes Einhorn gesehen“ tatsächlich, dass da „etwas dran ist“. Sind Widersprüche wie „A ist B“ und „A ist nicht-A“ aufgehoben, weil man sie sagt? Ich denke, da hat sich der Textdichter womöglich vertan.
„Egal wer kommt, egal wer geht, egal es kommt nicht darauf an“ – ist das so? Demnach ist also personelle Anwesenheit ebenso beliebig wie die Abwesenheit. Ein ziemliches Armutszeugnis. Clueso hat weder die Musik noch den Text allein geschrieben. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Beim Text wurde ihm von Baris Aladag geholfen, bei der Komposition von Ralf Christian Mayer. (Schaut am besten mal bei der GEMA rein.) Letztgenannter arbeitet u.a. Mariha, Cassandra Steen, Mark Forster, Pohlmann, aber auch mit Naidoo und Gabalier zusammen. Vielleicht ist es ja wirklich egal, wer „da kommt oder auch geht“ – wenn es nicht die Personen sind, die zählen, sondern andere Dinge. Was das sein könnte, weiß ich nicht zu sagen. Beliebigkeit schmeckt jedenfalls immer etwas beliebig, Herr Clueso.
Vers drei und vier präsentieren nicht nur den großartigen Reim („auch“ – „auch“), sondern auch weitere Beliebigkeiten und Widersprüche. Wenn das lyrische Ich doch an ein „dich“ glaubt, dann ist die Aussage, dass es gleichzeitig an „nichts“ glaubt, schlicht falsch. Da hilft es nicht, dass der Glaube sprichwörtlich Berge versetzen kann. Was da im Text passiert, ist nicht nur unlogisch, sondern einfach auch nicht von sonderlicher Güte. Dann also mal im Refrain nachschauen, ob noch etwas passiert:
Ich bin dabei, du bist dabei, wir sind dabei uns zu verlier’n!
Ich bin dabei, bist du dabei, sind wir dabei uns zu verlier’n?
Ich bin dabei, du bist dabei, wir sind dabei uns zu verlier’n!
Ich bin dabei, bist du dabei, bin ich dabei uns zu verlier’n?
Auch hier: Großartige Reimform. Aber bekanntermaßen hilft viel auch nicht immer viel. Weniger ist also wahrscheinlich mehr. Im ewigen Wechsel zwischen Aussage und Frage, Singular und Plural stellt das lyrische Ich (bisweilen fragend) fest, dass sich zwei Menschen womöglich voneinander entfernen. „Verlieren“ ist wohl metaphorisch gemeint. Andernfalls sänge Clueso ja davon, dass man einen anderen Menschen – im Sinne eines Gegenstands – verlöre. Aber ein Clueso wird nicht von einem verlorengegangen Sklaven singen. Da bin ich mir sicher. Ehe sich der Kehrreim immer und immer wieder um sich selbst dreht, folgt noch eine letzte Strophe:
Leichter als leicht, geht es vielleicht, leichter als das, was vielleicht war
Leichter als leicht, das ist nicht weit von hier zu dem, was noch nicht war
Suchst du mich, dann such ich dich, ist die Versuchung groß genug
Ich lass es zu, komm lass es zu, komm lass es uns noch einmal tun
Ich geb‘ nicht auf, gehst du mit mir, gehst du mit mir, mit auf uns zu
Fällt dir nichts ein, komm leg nicht auf, komm reg dich auf und komm zur Ruh
Dass Fakten nicht so im Fokus des lyrischen Ichs stehen, wird durch „das, was vielleicht war“ eindrucksvoll unterstrichen. Vielleicht soll das aber auch metaphorische Verletzlichkeit ausweisen. Ob eine Sache, die jemand erlebt hat, „vielleicht war“, ist aber die falsche Frage: Die Bewertung des Gewesenen kann eine andere sein, nicht jedoch die Sache an sich. War sie denn nun? Oder war sie nicht? Und so umwirken sich die Takte und Phrasen über 03:46 Minuten. Die Musik ist wie die filmische Inszenierung: Ziemlich unter Wasser.
Was will der Text? Was leistet er? Was er will, offenbart er nicht. Er leistet aber eines: Verwirrung und Unklarheit. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum ich den Titel 2009 geliebt habe und bis heute höre. Ich gehöre womöglich zur Zielgruppe kreischende Mädchen, die gern inhaltsleere Kontextabwesenheit mitsingen. Und dennoch: Nicht alles im Leben muss rational sein. Es darf durcheinander sein. Kryptisch. Zufällig. Und beliebig. Cluesos „Gewinner“ ist vor allem eines: Wirrer Text für wirre Köpfe. Eingepackt in vier Akkorde, die wundervoll arrangiert und perfekt durch den Protagonisten inszeniert sind. Und weil es so schön war, gleich noch mal (sogar mit weinerlicher Stimme):
Für mich war der Text immer ein Kampf mit der Erkenntnis, dass eibe Beziehung zu Ende geht. Wo einst Leidenschaft war, da ist jetzt Langeweile und Verwirrung. Es ist ein Lied von Loslassen ohne zu verletzen.