Eigentlich hatte die nordirische Songwriterin, Brigid O’Neill, zu Beginn des Jahres geplant, ihr drittes Album gemeinsam mit Nashville Produzent Neilson Hubbard (u.a. Mary Gauthier, Ben Glover, Gretchen Peters) ebendort aufzunehmen. Die Corona Pandemie zwang jedoch auch diese beiden Künstler zu einer Umstrukturierung der Arbeitsprozesse. Aus der Ferne wurde zunächst an drei Songs gearbeitet. Währendessen startete die Sängerin eine Kickstarter Kampagne zur weiteren Finanzierung ihres Albums. Binnen 24 Stunden wurde das erste angepeilte Ziel von 3000 Pfund erreicht und Brigid hofft weiterhin Geld für die Fertigstellung ihres Albums sammeln zu können.
Am 29. Oktober 2020 wurde mit „Leaving“ bereits die erste Single des geplanten Albums veröffentlicht. Der Song setzt sich mit dem Thema häuslicher Gewalt auseinander, die durch den coronabedingten Lockdown in diesem Jahr weltweit zugenommen und an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Aus diesem Grund wird ein Teil der Einnahmen an die Frauenhilfe gespendet.
Brigid stand uns für ein schriftliches Interview bezüglich ihres aktuellen Schaffens sowie ihres Umgangs als Künstlerin mit der derzeitigen Situation zur Verfügung:
In einer Erklärung zu „Leaving“ sagtest du, dass dieses Lied geschrieben wurde, bevor das Thema der häuslichen Gewalt durch den Lockdown von Covid-19 an Relevanz gewann. Was war die treibende Kraft hinter der ursprünglichen Idee für dieses Lied?
Ich bin erschrocken und zutiefst beunruhigt über das Schweigen, das Fälle häuslicher Gewalt umgibt. Ich war auf einige Fälle aufmerksam gemacht worden, in denen Frauen körperlicher und/oder psychischer Misshandlung durch ihre Partner ausgesetzt waren, aber aufgrund der Komplexität des Familienlebens, in Ermangelung eines Ortes, an den sie sich zurückziehen konnten und der damit verbundenen Scham, die sie zu ertragen glaubten, konnten sie das Haus nicht verlassen. Was mir wirklich auf die Nerven ging, war, dass niemand von uns etwas davon wusste, während es tatsächlich geschah. Ich selbst fühlte mich davon zutiefst betroffen, und ich nehme an, dass ich das schließlich durch das Lied zum Ausdruck gebracht habe.
Wie kam dieses Thema während des Lockdowns auf dich zurück und brachte dich dazu, die Idee von „Leaving“ zu verwirklichen?
Immer wieder las ich Zeitungsartikel oder Anzeigen von Wohltätigkeitsorganisationen in meinem Social Media Feed, die Optionen und Hilfe für diejenigen anbieten, die unter häuslicher Gewalt oder irgendeiner Art von Bedrohung leiden. Als ich das las wurde mir klar, dass die Situation der Opfer während des Lockdowns, jeglicher Möglichkeiten diese Bedrohung zu minimieren beraubt, schlimmer nicht hätte sein können.
Das Thema des Stückes ist sehr sensibel und persönlich. Wie sind die bisherigen Reaktionen der Hörer auf „Leaving“?
Ich war ziemlich schockiert über die unmittelbare und emotionale Reaktion auf das Lied. Ich wusste, dass die Leute die Handlung, den Ernst der Geschichte und die Botschaft verstanden, aber auch, dass sie es melodisch genoßen zu hören. Auf diese Weise konnte ihnen die Botschaft der Hoffnung, Stärke und Widerstandsfähigkeit der Frau in dem Lied offenbart werden.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Produzent Neilson Hubbard?
Ich lernte Neilson zum ersten Mal durch einen Freund, den großartigen nordirischen Songwriter, Ben Glover, kennen, als ich zum Schreiben in Nashville weilte. Neilson und Ben sind beide Mitglieder von The Orphan Brigade, von deren Musik und fabelhaften Filmkonzepten ich mich sofort angezogen fühlte. Ich unterhielt mich mit Neilson bei den Americana Association Awards UK in London und wusste sofort, dass er jemand war, mit dem ich zusammenarbeiten könnte. Ich bewunderte seinen Produktionsstil für andere Künstler sehr, und wir verstanden uns einfach!
Aufnahmeprozesse ändern sich in der aktuellen Situation. Du befindest dich in Belfast, Neilson Hubbard, arbeitet in Nashville. Kannst du uns einen Einblick geben, wie dein Arbeitsprozess im Moment aussieht?
Es ist knifflig, macht aber auch viel Spaß! Die Lieder pendeln zwischen uns hin und her und durch Zoom-Meetings und Chats diskutierten wir den musikalischen Ansatz, den wir umsetzen wollten. Während der Studioaufnahmen waren wir stets zusammen, da ich die ganze Zeit auf Zoom war und Input und Feedback gab. Dann machte ich die Gesangsaufnahmen im Studio hier zu Hause mit einem großartigen Produzenten namens Michael Mormecha. Wir arbeiten jetzt an weiteren Songs. Wenn es eine Chance gäbe, nach Nasheville zu kommen, würde ich diese ergreifen., aber in der Zwischenzeit werden wir das Album vielleicht auf diese Weise fertig stellen. Alle lieben den Sound der bisherigen Stücke, also ist alles gut!
Die Corona-Pandemie hat das öffentliche Leben weltweit praktisch gelähmt. Hier in Deutschland ist die Kulturwirtschaft verzweifelt, von den Veranstaltern und Labels über die Techniker bis hin zu den Künstlern selbst. Kulturschaffende fühlen sich im Stich gelassen und sind auf staatliche Finanzhilfen angewiesen, die kaum ausreichend garantiert werden. Auf der anderen Seite fordern Politiker die Künstler auf, sich zu engagieren, da es der Kulturwirtschaft an Lobby fehle.
Wie nimmst du die Situation in Nordirland wahr und wie gehst du selbst mit den Problemen um, mit denen du als Künstlerin konfrontiert bist?
Es war bitter enttäuschend zu sehen, dass die Regierung den enormen Wert der Künste und die Rolle, die sie für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen spielen, nicht erkannt hat. Auch nicht den beträchtlichen Beitrag, den sie für unsere Wirtschaft leisten. Ich finde es zudem ironisch, dass das Erste, was die meisten Musiker, die ich kenne und mit denen ich zusammenarbeite, während des Lockdown taten, war, ihre musikalischen Talente zu nutzen, um Geld für andere zu sammeln, die verzweifelt in Not waren.
Die Situation hier in Nordirland ist derzeit in der Tat sehr schlecht. Viele Organisatoren haben ihre Veranstaltungen und Festivals online durchgeführt, aber es ist so viel schwieriger, damit tatsächlich Geld zu verdienen. Viele von uns haben die Zeit genutzt, um neue Musik aufzunehmen und zu veröffentlichen, aber das ist eine Henne-Ei-Situation, weil man dafür Geld braucht und es keine Einnahmen aus Auftritten usw. gibt. Wir haben eine bescheidene staatliche Unterstützung erhalten, die vom Arts Council Nordirlands hart erkämpft wurde. Das ist sehr begrüßenswert, aber nicht annähernd ausreichend, um die Kosten für die Aufnahme und angemessene Veröffentlichung neuer Musik zu decken, so dass sie gespielt und gehört werden kann.
Aus wirklicher Verzweiflung startete ich eine Kickstarter Kampagne, in welcher ich meine Fanbase um Unterstützung zur Finanzierung meines neuen Albums bat. Die Resonanz war wunderbar, und ich war so dankbar dafür. Es hat mir auch gezeigt, dass die Leute an meine Musik glauben und bereit sind, mir zu vertrauen und in sie zu investieren.
Kannst du uns einen kleinen Ausblick auf das kommende Album geben, welches dein drittes sein wird? Auch wenn der kreative Prozess noch im Gange ist, kannst Du bereits jetzt abschätzen, welche Rolle dieses Album im Kontext Deines Gesamtwerks spielen wird?
Ja. Ich glaube, jedes Mal, wenn ich an einem neuen Album arbeite, mache ich einen Quantensprung in meiner musikalischen Entwicklung. Ich lerne jedes Mal so viel. Über den Schreibprozess an sich (- ich konzentriere mich diesmal bewusst auf das Americana-Genre, so dass es an sich schon ein bisschen wie ein Auftragswerk ist), über effektive musikalische Arrangements, über Produktionsstile, darüber, wie man sich mit Menschen auf einer sehr persönlichen Ebene verbindet und sie erreicht – so funktioniert die Musikindustrie heute. Es dreht sich alles darum, seinem Fan ganz persönlich nahe zu sein – und das passt mir gut!
Fühl dich frei, alles zu ergänzen, was dir für dieses Album oder deine momentane Arbeit als Musikerin wichtig ist.
Einen Großteil meines Lebens habe ich mich damit identifiziert, Sängerin zu sein – eine Interpretin der Lieder anderer Menschen. Doch jetzt habe ich, mehr denn je, das Gefühl, dass ich meine musikalische Persönlichkeit als Songschreiberin festige – dass die Menschen wissen, wer ich musikalisch bin, was ich kann und was sie erwarten können. Es ist schön, durchweg positive Rückmeldungen darüber zu erhalten, wer ich als Geschichtenerzählerin bin, jemand, der wichtige Botschaften weitergeben kann, sowie großartiges Feedback zu meinem Gesang. Das bedeutet mir sehr viel.
Ich danke euch für eure Unterstützung und Interesse an meiner Musik.
Brigid O’Neill, November 2020
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Wir danken Brigid für ihre Zeit und ausführlichen Antworten und wünschen ihr viel Freude, Schaffenskraft und Erfolg bei ihrer weiteren Arbeit!
Das Interview wurde in schriftlicher Form und in englischer Sprache geführt. Die Übersetzung stammt vom Verfasser.
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