Seit über 30 Jahren sorgt der Weihnachtsklassiker „Last Christmas“ mit seinem kitschigen „special“-Hall-Gesang für nervtötende (Vor)Weihnachtshörstürze, den gleichzeitigen Wunsch nach Ruhe und Tinnitus und unerbittliche Ohrwürmer. Wann immer man öffentlich-beschallte Räume betritt, im Radio einen falschen Sender anmacht oder eben bei Edeka noch schnell Mate kaufen muss, Wham! ist bereits vor Ort. Es soll aber auch Menschen geben, die sich auch an diesem Lied nicht satthören können. Menschen, die sich mit „Last Christmas“ identifizieren können. Geht man davon aus, dass sich ein Publikum zuvörderst mit Inhalten identifiziert und über diese dann mit den Personen, die denselben vortragen, so ergibt sich eine erlaubte Frage: Womit identifizieren sich die Identifizierten von „Last Christmas“?
Worum geht es also? Tadah: die schmerzvollen Narben, die unerfüllte Liebe im Herzen hinterlässt. Endlich mal ein neues Thema. Aber die Menschen haben ja auch schon vor der Veröffentlichung des Liedes am 3. Dezember 1984 prä-, inter- undn post-weihnachtliches Herzbluten erfahren. Gemessen am Alter der Menschheit gilt es also, möglichst viel Herzschmerz aufzuholen und immer und immer wieder zu rekapitulieren.
Bekanntermaßen eröffnet der Titel mit seinem Kehrreim:
Last Christmas, I gave you my heart
But the very next day you gave it away
This year, to save me from tears
I’ll give it to someone special
Und damit die Nachricht auch ankommt, gibt es den Refrain gleich doppelt aufs Ohr. Zusammengefasst: Das lyrische Ich beklagt den Umstand, das er um die Zeit des letztjährigen Weihnachtsfestes sein Herz verschenkt hat. Es darf davon ausgegangen werden, dass der 2016 verstorbene Textdichter George Michael das metaphorisch gemeint hat. Nach dem Verschenken seiner Liebe stellte der/die Beschenkte fest, dass dieser Akt der Großzügigkeit nicht auf einem Gefühl gegenseitigen Empfindens beruht und gab das Herz dann weg. Metaphorisch gesprochen: Der/die Geliebte verschenkte das Geschenk. Nun wissen aber alle, dass man „Geschenktes nicht wieder verschenkt“ – außer beim Schrottwichteln -, was deutlich macht, dass die Angebete einen ziemlich fiesen Charakter hat. (Der Einfachkeit halber unterstelle ich, dass das (!) Angebetete eine Frau ist, um selbige fortan mit „sie“ ansprechen zu dürfen.) Erläuternd gesellt sich hernach die Strophe hinzu:
Once bitten and twice shy
I keep my distance
But you still catch my eye
Tell me, baby
Do you recognize me?
Well, it’s been a year
It doesn’t surprise me
(Merry Christmas!) I wrapped it up and sent it
With a note saying, „I love you, “ I meant it
Now, I know what a fool I’ve been
But if you kissed me now
I know you’d fool me again
Das lyrische Ich – ich werde es fortan einfach „er“ nennen – fragt sich nun berechtigerweise, ob sie ihn denn noch erkennt? Vielleicht ist sie ja weniger charakterfies, als man unterstellt. Vielleicht ist sie einfach nur extrem vergesslich. Bei „50 erste Dates“ war das romantisch. Bei „Last Christmas“ nicht so. Am Ende steht jedoch die bittere Erkenntnis, dass das lyrische Ich sich närrisch verhalten hat. Na, ja – so hart muss man das auch nicht sehen. Liebe geht ja – wenn man dem Sprichwort glaubt – auch eher durch den Magen als durch den Kopf. Und die wenigsten Menschen reflektieren parallel zum Verliebtsein das Für und Wider des Subjekts der Liebe. Hernach also wieder ein bisschen Refrain. Dann die nächste Strophe:
A crowded room, friends with tired eyes
I’m hiding from you, and your soul of ice
My god, I thought you were someone to rely on
Me? I guess I was a shoulder to cry on
A face on a lover with a fire in his heart
A man under cover but you tore me apart
Now, I’ve found a real love you’ll never fool me again
Dass man sich in der Verletzung bisweilen auch in großen Menschenmengen einsam fühlt, ist aufmerksam und repräsentativ beobachtet. Am Ende findet er dann doch „a real love“ und sie kann ihn nicht neuerlich verarschen. Und dennoch wieder der Refrain zum Abschluss. Immer und immer wieder das gebrochene Herz. Mir scheit, er ist doch noch nicht so ganz über sie hinweg.
Der Text – für sich genommen – ist nachvollziehbar. Seicht zwar, aber dennoch mit genug Fläche, um sich daran zu reiben oder wiederzufinden. Identifikationswürdig. Warum also die Rubrik „Inhalte überwinden“? Musik besteht – in diesem Fall bedauerlicherweise – nicht nur aus Text. Nimmt man den Text ernst, dann geht es um einen ziemlich verzweifelten Typen, der zwar recht leichtfertig, aber dennoch aufrechten Herzens seine Liebe „verschenkt“ und hernach ein tiefes Verletzungs- und womöglich auch Kränkungserlebnis erlebt. Klingt denn meine Kränkung so? Meine bisherigen Reaktionen auf ähnlichartige Enttäuschungen klang eher so:
Bei Wham! klingt die Musik eher nach folgendem Text: „Das war so schön, dass du mir das Herz gebrochen hast. Ich liege voll zufrieden mit gebrochenem Herzen in meinem Snoezelen-Raum und obwohl ich weine, sieht alles ganz positiv rosafarben aus.“ George Michael, das kannst du besser. Warum denn dieser Unsinn? Wenn schon Identifikation, dann sollte doch Schmerz auch nach Schmerz klingen. Und Heititeiti nach Heititeiti. Der Text darf gern zur Musik passen – und die Musik gleichzeitig auch zum Text.
Und zu guter Letzt – hört man rein: Ähnlichkeiten sind bestimmt zufällig:
Was ist das den für eine Rezi!
So viel Schwachsinn!
Wird nicht in den meisten Liedern etwas übertrieben und wenn du ein Musiker bist, solltest du das wissen.
Nur weil man das Lied nicht mag, muss man nicht seine scheiß Laune daran aus lassen. Leben und Leben lassen, dass sollte man als „Musikkenner“ beachten.
Grundsätzlich ist es wichtig, keine Rezension nicht als Rezension zu betrachten. Wenn man Wurst kauft, beschwert man sich meist auch nicht über den Käse, der in einer anderen Verpackung ist. Erlaubt ist, was gefällt. Und wem gefällt, dass Inhalt und Form nicht zusammenpassen, dem sei das doch zugestanden.
PS: Ich mag den Titel trotz seiner Defizite auch. Darum: Lesen hilft, ehe man polemisiert.
Da hat wohl jemand den Inhalt nicht gelesen oder nicht verstanden.
Dasselbe wollte ich auch gerade als Vermutung formulieren. Und das ist so schade – dies Form der Ausseinandersetzung mit Musik ist geradezu spannend. Ja, und natürlich auch zu Diskussionen animierend. Wenn sie denn gelingen.
Lieber Vogel, ich kann nicht recht nachvollziehen, an welcher Stelle genau sie hinein- oder herauslesen, dass dem Autor das Lied nicht gefällt oder er womöglich seine „scheiß Laune“ an ihm auslässt. Lässt man diese Voreinstellung – woher sie auch immer rühren mag – mal weg, liest sich der Artikel womöglich ganz anders. Probieren Sie es mal …
Kurios.
So wie meine Vorredner konnte ich dem Text nicht entnehmen, dass der Autor das Lied als schlecht empfindet.
Aber wenn sich bei Kritik an einem Lied gleich jemand angesprochen fühlt, sollte vielleicht überdacht werden, wer hier die “scheiß Laune“ hat.