In der Liga der sogenannten „Deutsch-Pop-Poeten“ ein weiterer Großer: Der liebenswert nuschlende und häufig tieftraurige Philipp Poisel. Ein Typ fast wie von nebenan. Nur halt von woanders. Wie er in schwarz-weiß auf der Bühne vor sich hinleidet. Der Nachbarsjunge. Dem so oft das Herz gebrochen wurde. Bisweilen hört man Menschen sagen, dass Musik etwas sei, womit sie sich „identifizieren“. Identifikation also. Was ist das eigentlich? Dass sich Identitäre mit Identitätsrock identifizieren, liegt in der Natur der Sache. Fußballfans identifizieren sich auch mit ihrem Sport und ihrem Club. Geht man davon aus, dass sich ein Publikum zuvörderst mit Inhalten identifiziert und über diese dann mit den Personen, die denselben vortragen, so ergibt sich eine erlaubte Frage: Womit identifizieren sich die Identifizierten von Philipp Poisel?
https://www.youtube.com/watch?v=u8tHKxrhE0M
Mit beinahe von Tränen erstrickter Stimme moderiert er sein „Wie soll ein Mensch das ertragen“ an.
Stell dich vor meine Mitte.
Leg dich in jede Figur.
Werf dich in jeden meiner Schritte.Ich tanz‘ für dich, wohin du willst.
Ich geh‘ rüber ans Fenster
um zu sehen ob, die Sonne noch scheint.
Hab‘ so oft, bei schwerem Gewitter in deine Hände geweint.
Es ist also das Thema schlechthin: Der Kummer des Liebens wegen. Das Versprechen, jemanden bis ans Ende der Welt zu begleiten, erfährt hier eine Wiedergeburt: Hier wird der Weg aber nicht gemeinsam gegangen, sondern vorgetanzt. Wenn ich für das schöne Geschlecht tanzend aktiv war, habe ich ähnlichartige Mitleidsbekundungen geschenkt bekommen. So katapultiert man sich schnell vom potentiellen Freund zum „guten Freund“. Und wer kennt das nicht? Da sitzt man im Zimmer und hat wirklich keine Ahnung, wie das Wetter draußen ist. Also hin da und nachgucken. Der lyrische Kumpel-Ich-Typ weint hernach noch in die Hände der Frau – ich unterstelle hier eine Mann-Frau-Konstellation -, für die er eigentlich ein „Mann“ sein will. Bei (ersten) Dates kommt weinen immer gut an. Deshalb habe ich viel erfolglos geweint. Philipp, dieser Text erscheint mir identifikationswürdig. Weiter heißt es:
Wie soll ein Mensch das ertragen?
Dich alle Tage zu sehen
ohne es einmal zu wagen
dir in die Augen zu sehen.
Verstehe ich richtig? Der lyrische Kumpel-Ich-Typ weint also in die Hände der Angebeteten und guckt ihr (aus lauter Scham?) nicht in die Augen? Man, wie macht der das bloß? Ich würde unterstellen, dass das nicht möglich. Aber man kann sich ja auch mit Unmöglichkeiten identifizieren. Ich identifiziere mich beispielsweise oft mit schwarzem und zeitgleich nicht-schwarzem Humor. Ich bin ein Zweifler. Ein Philipp-Typ. Aber man soll einen Künstler nicht auf einen einzigen Text reduzieren. Weiter geht’s mit „Mit jedem deiner Fehler“.
Hier heißt es:
Ich will nicht bei dir klingeln,
und ich tu es doch.
Ich will nicht an dich denken,
und ich tu es immer noch.
Ich will nicht von dir reden,
vom Sehen ganz zu schweigen.
Schäm dich was, dass du dich immer noch
in meine Lieder schleichst.
Ambivalentes Verhalten kennt wirklich jeder. Das Identifizieren muss doch glücken. Jeder kennt den Umstand, dass man an jemanden nicht denken will und es dennoch tut. Nicht nur Kinder, die nachts an die Zahnfee denken. Und für Freunde der Selbsterniedrigung heißt es dann weiter:
Du bist so herrlich überheblich,
so wunderbar arrogant.
ganz schön eingebildet,
dafür ernenn ich dich zur Königin von meinem Land.
Wer kennt das nicht? Wenn man endlich hassenswerte Makel entdeckt, dann liebt man die trotzdem. Niemand würde behaupten, dass – wenn man beabsichtigt, jemanden weniger zu mögen – Fehler wie Arroganz, verbaler Durchfall oder ähnliches nicht dabei helfen würde, dass das Doof-Finden besser funktioniert. Oder doch? Dann würde das Identifizieren am Ende gar nicht passen. Und einer der am häufigsten gehörten Sätze vor, während und nach Beziehungen ist:
Mit jedem deiner Fehler
Mit jedem deiner Fehler
Mit jedem deiner Fehler
lieb’ich dich mehr.
Das ist also die Alternative zu „es liegt nicht an dir. es liegt an mir. aber wir können ja freunde bleiben“? Wie verarbeitet man nicht-erwiderte Liebe? Mit ganz viel Liebe. Die man auf eine CD presst. Das kennt jeder. Und jeder kann sich damit identifizieren.
Um aber beim Thema zu bleiben – ausnahmsweise mal unerwiderte Liebe – geht es mit „Eiserner Steg“ weiter:
Ich atme dich ein
und nie wieder aus.
Schließ‘ dich in mein Herz.
Lass dich nicht mehr raus.
Für unromantische Textedeuter klingt das ein bisschen wie Hannibal Lecter durch die Nase. Und weiter heißt es:
Wer achtet auf mich jetzt,
dass ich mich nicht verlauf‘?
Und wenn ich jetzt falle,
wer fängt mich dann auf?
Nach 40 Liedern ist dem lyrischen Ich also noch nicht klar, dass manche Frauen kein betreutes Wohnen etablieren wollen, sondern einen selbstständigen Charakter an ihrer Seite haben wollen? Ich kenne das: Immer und immer wieder die gleichen Fehler. Da steigt man die frisch-gemachten Stufen im Hausflur hoch und die dritte Stufe ist etwas höher. Zack: gestolpert. Und beim nächsten Mal? Beim nächsten Mal auch. Und danach? Immer und immer wieder. Nun ist die Liebe nicht wie das Besteigen einer Treppe, aber wo genau ist der Inhalt, mit dem man sich identifizieren kann? Ist es die Sehnsucht? So ganz pauschal und allgemein? Oder ist es der Umstand, dass da ein netter Junge von nebenan ziemlich traurig ist. Ist es der Reflex, diesen Jungen in den Arm nehmen zu wollen? Mitleid ist – das habe ich oft erlebt – eine gute Basis für eine gleichberichtigte Partnerschaft. Und potentielle neue Partner hören gern immer und immer wieder die dramatischen Geschichten um die sogenannten „Exen“.
Aber ohne geht’s auch nicht. Da würde ja auf einen Schlag das Thema „alle“ sein. Wo sind die identifikationswürdigen Inhalte? Ich finde sie nicht. Die Inhalte sind bisweilen grotesk, wenn man sie auf sich selbst anwendet. Aber verstehen muss ich es auch nicht. Das machen andere. Und „erlaubt“ ist, was gefällt. Inhalte überwinden!
Ein Format mit Charme & Kritik. Einfach herrlich!