Bisweilen hört man Menschen sagen, dass Musik etwas sei, womit sie sich „identifizieren“. Identifikation also. So auch Menschen, die AnnenMayKantereit hören. Man kann das behaupten. Oder nicht. Was ist dieses Identifizieren. Dass sich Identitäre mit Identitätsrock identifizieren, liegt in der Natur der Sache. Fußballfans identifizieren sich auch mit ihrem Sport und ihrem Club. Geht man davon aus, dass sich ein Publikum zuvörderst mit Inhalten identifiziert und über diese dann mit den Personen, die denselben vortragen, so ergibt sich eine erlaubte Frage: Womit identifizieren sich die Identifizierten von AnnenMayKantereit?
In einer Hymne der Band heißt es:
An der Haltestelle stehen
Und es tut weh dich schon wieder so, wieder zu sehen
Und es tut weh
Das wir gleich wieder gehen
Und es tut weh dass man sich nur sieht
Weil bei mir so viel Zeug von dir rumliegt
Das ich nicht mehr ertrage
Das scheint plausibel. Es gibt Menschen, die schon mal an einer Haltestelle gestanden haben und eine(n) Verflossene(n) gesehen haben. Das tut mächtig weh. So sehr sogar, dass sich Weltliteratur und Liedermachende permanent damit auseinandersetzen müssen. Identifikation: geglückt? Und im Kehrreim heißt es dann:
Es tut mir leid Pocahontas
Ich hoffe du weißt das
Es tut mir leid Pocahontas
Ich hoffe du weißt das!
Das lyrische Ich richtet also einen Apell an seine Verflossene. (Ich unterstelle mal die männliche Perspektive.) Die Verflossene heißt „Pocahontas“. Ein netter Kosename zwischen allen „Hasen“, „Mäusen“ und „Schätzen“. Exklusive Namen gehören zu einem exklusiven Selbst-Image. Da steht er also an der Haltestelle und hofft, dass sie weiß, dass es ihm leid tut. Aber was denn? Jemand, der so selbstreflektiert ist wie das lyrische Ich, geht doch bestimmt zur Verflossenen und leistet Abbitte. Geht aber nicht. Der Bus kommt bestimmt bald. Also weiter hoffen. Und zu guter Letzt:
Ich halt‘ dich nicht fest
Und lass‘ dich nicht los
Ich halt‘ dich nicht fest
Kluge Verse, denn Nichts-Tun hilft bekanntlich am meisten. Danke, AnnenMayKantereit. Ich bin schon ganz infiziert – pardon, „identifiziert“ – von der Wucht dieser Inhalte. Bei „Barfuß am Klavier“ geht es um ein anderes Thema. Da heißt es:
Und du und ich
Wir waren wunderlich
Nicht für mich
Für die die es störte
Wenn man uns Nachts hörte
Ist abgekauft und total identifikationswürdig. Und weiter geht’s:
Ich hab mit dir gemeinsam einsam rumgesessen und geschwiegen
Ich erinner‘ mich am besten ans gemeinsam einsam liegen
Jeden Morgen
Danach bei dir
Du nackt im Bett und ich Barfuß am Klavier
Und ich sitz schon wieder
Barfuß am Klavier
Ich träume Liebeslieder
Und sing dabei von dir
Worum geht es? Um das Ende einer Beziehung. Mal was Neues. Aber andere machen das ja auch. Was aber macht den Text identifikationswürdig? Das lyrische Ich ist einfach gern schuhlos. Peter Griffin hat auch keine Lust auf diese „Fußgefängnisse“. Nach erfolgreichem Vollzug des Koitus („du nackt im Bett“) – oder was soll hier in erbaulicher Metapher gesagt werden? -, ist er gern barfuß? Wer trägt denn beim und nach dem Sex gern Schuhe? Niemand. Zack: Identifikation geglückt? Wie auch bei dem Titel „Das Krokodil“ – da heißt es:
Das Krokodil raucht zu viel (Ach ja?)
Das Krokodil raucht zu viel (Ach ja?)
Das Krokodil, das Krokodil
Das Krokodil raucht zu viel
Rauchen ist schlecht. Das wissen alle. Ein Inhalt den jedermann bestätigen kann. Selbst Raucher. Zack: Identifikation geglückt?
Womit kann ich mich identifizieren? Mit Inhalten, die so verbalisiert werden, dass ich mich im Allgemeinen wiederfinden kann. Dass ich in der Aussage des Textes Anteile meines Lebens entdecke. Anteile, die mich tatsächlich berühren. Ich will mich in der Struktur des allgemeinen Inhalts wiederentdecken und sie mit meinen Inhalten füllen können. Geht das denn? Bei „Erik und das Polk“ heißt es „Wie in allen andren Ländern / wird sich daran nichts mehr ändern, / dass man singt, so wie man spricht, / und was andres wollen wir nicht.“ Da gehe ich mit. Das Identifizieren gelingt, denn ich singe, wie ich spreche. „Neufundland“ singen: „und all die Freigeister und all die Wegbereiter / sind genauso auf ihr Maul gefallen wie ich. / Und all die Weltenlenker und all die Dichter und Denker / sind genauso auf ihr Maul gefallen wie ich.“ Hinfallen kann ich. Das kenne ich – wer sucht nicht Parallelen bei Großen und Kleinen?
Wo sind diese Inhalte bei AnnenMayKantereit? Ich bin auch manchmal barfuß. Ich stand schon an einer Haltestelle. Ich hatte unglückliche Tage, weil mich meine Freundin nicht mehr wollte (oder ich sie). Na, und wenn Rauchen für Menschen schlecht ist, dann bestimmt auch für Krokodile. Identifikation mit? Ich finde nichts Identifikationswürdiges.
Muss ich aber auch nicht. Denn den Koitus vollzieht man trotzdem meist ohne Schuhe. Und „erlaubt“ ist, was gefällt. Inhalte überwinden!