Klangvoll und inhaltsreich, stimm- und wortgewaltig kommt „Idiot im Wunderland“ daher. Das im Herbst vergangenen Jahres veröffentlichte Album des Waldgeist-Kartell ziert sich nicht vor bedeutsamen Themen, hebt sich über Genregrenzen hinweg und bleibt sich dennoch in vertrauter Akustik-Punk Attitüde treu. Was das Album und seine Inhalte für die Band bedeuten, was sie umtreibt und vieles mehr, erzählt uns das Quintett in einem ausführlichen schriftlichen Interview.
Die digitale Veröffentlichung von „Idiot im Wunderland“ liegt nun ein gutes halbes Jahr zurück. Nachdem ihr fast zwei Jahre daran gearbeitet und, laut eigener Aussage, keinen Stein auf dem anderen gelassen habt, wie ist die Gefühlslage in Bezug auf das Album und die Reaktionen? Ist es euch schwergefallen, die Songs loszulassen?
Das Album thematisiert genau das, was während seiner Entstehung und auch nach wie vor gilt: Konstant ist nur der Wandel. Wir sind wahnsinnig stolz auf das, was wir als Künstler und vor allem als Kollektiv geschafft haben. Der äußere Erfolg ist dabei zweitrangig, denn keiner kann uns nehmen, dass wir dieses Stück Wahrheit, Kunst und Rebellion in die Welt gebracht haben. Dort ist es nun, für die Ewigkeit ein Nachweis dessen, was wir zu diesem Zeitpunkt geglaubt, gefühlt und geschrieben haben. Ein Ausdruck unseres Glaubens an das, was wir in der Lage sind zu tun.
Wir sind näher zusammengerückt. Wir alle sind als Künstler und sogar noch mehr als Menschen gewachsen und jeder von uns hat die Phasen, die das Album thematisiert; Ignoranz, Wut, Trauer und Erkenntnis/Verständnis/Wachstum, auf seine Art noch einmal durchlaufen. Und das Beste ist: Wie bei einer Spirale, geht es am Ende von einem neuen Punkt des Verständnisses wieder von vorne los.
In dem Sinne lassen wir die Songs also nicht wirklich los. Abgesehen davon, dass wir sie Live performen und sie für den Zweck auch weiterhin weiterentwickeln, ist dieses Album ein tiefer Ausdruck unseres Seins und damit für immer ein Teil von uns.
„Idiot im Wunderland“ ist ein Konzeptalbum. War euch von vornherein klar, worum es gehen soll? Wie ist die Idee zum Album entstanden?
Nein, anfangs gab es keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Songs. Es waren separierte Stücke, die sich während des Schaffensprozesses immer mehr zu einem Gesamtwerk zusammengefügt haben. Die Texte zu den ersten Stücken auf dem Album sind bedeutend älter als speziell die letzten beiden, „Schattenkind“ und „Krieger“, die zuletzt entstanden sind und einen tiefgehenden Paradigmenwandel ausdrücken. Um ganz ehrlich zu sein, war uns selbst als das Album fertig war noch nicht klar, worum es eigentlich geht – und vielleicht ist es das bis heute nicht. Zumindest werden uns Aspekte dessen nach wie vor bewusst, die es bislang nicht waren. Es handelt sich hier aus Sicht des Texters um eine alchemistische Arbeit von Selbstauflösung und Neuzusammensetzung, um „Solve et Coagula“. In dem Sinne ist es ein niemals endender Prozess von Lernen, der immer neue Interpretationen zulässt, je nach dem, wie sich die Fragestellung entwickelt.
Das Konzept ist dabei eher intuitiv und instinktiv entstanden und reflektiert eine Entwicklung des Protagonisten. Vom Gefühl der totalen Machtlosigkeit und Überforderung, der Idee ungenügend zu sein und in einer „schlechten Welt“ leben zu müssen, einer daraus resultierenden schützenden Ignoranz und der Entscheidung weg zu gucken, über die projizierte, nach Außen verlagerte Wut, die schließlich unweigerlich zur Trauer über das Verlorene führt und aus der Konfrontation die Möglichkeit der Neugeburt des Phönix aus der Asche der alten Welt und Realität erschafft.
Das Album ist also gewissermaßen u.A. vertonte Schattenarbeit im Sinne C.G. Jungs und erschafft aus den gewonnenen Erkenntnissen den Anspruch, einen Beitrag zur Selbstermächtigung und damit zur anarchistischen Revolution (im Sinne des tiefgreifenden Wandels, nicht des gewaltsamen Umsturzes) zu leisten.
Im Laufe der Entstehung wurde uns dabei immer klarer, dass es sich nicht nur um einen persönlichen Prozess handelt, sondern dass er archetypische Züge aufweist. Der Titelsong „Idiot im Wunderland“ hat uns schließlich mit seiner Zeile „und wir laufen wieder mal nur dem Kaninchen hinterher“ die Personifizierung der Geschichte in Form des pinken Hasen geschenkt, der in der Symbolik für Neugeburt und Unschuld dient. Das spiegelt die Aussage des Albums und macht ihn zum perfekten Protagonisten. Der Idiot im Wunderland durchschreitet als unwissender Idiot die Schattenseite einer Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten, ohne diese jedoch zu erkennen und seine Möglichkeit zu schöpfen, zu verändern, zu verstehen. Er muss durch den Schmerz, die Wut und die Erkenntnis gehen und die Aussage dieser Phasen verstehen, sie transformieren, um schließlich und schlussendlich zum Wunder von Idiotia werden zu können – einem Ausdruck der Hoffnung und Rebellion gegen eine sterbende Idee von Spaltung, Entmachtung, Abgabe der Verantwortung und unbegrenzter Dummheit werden zu können und den Menschen, die sich zunehmend im Zynismus verlieren, die wichtigste Nachricht der Neuzeit bringen zu können:
Erkennt euch selber und ihr werdet eure Götter erkennen!
Die Texte zeichnen das Bild eines Kollektivs, das sich selbst über den Kopf gewachsen ist; eines Individuums geprägt von innerer Umwälzung und zunehmender Resignation. Mögt ihr ein Stück eurer Gefühlswelt im Zuge der Entstehung der Songs teilen?
Nein! Fragt euch selber, wie ihr euch wirklich fühlt. Fragt euch, was euch bleibt, wenn im Außen alles wegbricht und fragt euch, warum ihr euch dafür entscheidet, nicht zu handeln, trotz dessen ihr wisst, dass die Welt um euch herum am brennen ist. Dass Krieg herrscht und wir auf die globale Katastrophe des Klimawandels zusteuern. Dass wir uns selbst ein Wirtschaftssystem der Selbstversklavung mit täglich Tausenden Todesopfern geschaffen haben. Dass Depression langsam aber sicher zur Volkskrankheit wird. Fragt euch, welche soziale Maske ihr tragt und worin ihr eure Trauer tagtäglich erstickt.
Fragt euch, was Freiheit für euch bedeutet und wie viele Kompromisse ihr dafür eingehen mögt. Wie weit zu gehen ihr bereit seid, um euch selbst zu befreien und wie weit euch Konformität und Komfort korrumpiert haben.
Fragt euch, warum äußere Systeme, von Monarchie bis zur modernen Demokratie, von Leibeigenschaft, Sozialismus und Marktwirtschaft, keine Lösungen gebracht haben. Warum jeder sogenannte Anführer, so gut seine Absichten auch immer gewesen sein mögen, nicht die Antwort auf die großen Fragen bringen konnte.
Für die, die wirklich die Freiheit suchen und nicht länger nur von ihr reden wollen. Für die, die sich nicht scheuen, ihre eigenen Schatten zu sehen. Für die, die durch den eigenen Tod gehen würden, um nicht länger in einem Abhängigkeitssystem von den eigenen Komplexen und der darauf basierenden Fremdsteuerung zu leben. Für die möge „Idiot im Wunderland“ ein kleiner Lichtschimmer in der Dunkelheit sein. Für die wird sich offenbaren, was wir sagen wollen und sie werden es aus tiefstem Herzen nachempfinden können, da sie sich ähnlich fühlen.
Die anderen mögen sich die Zeit nehmen, die sie für angemessen halten und für ihre Entwicklung brauchen und bis dahin ihr Glück in anderen Quellen suchen. Eine Erklärung ist in dem Falle allerdings nicht notwendig, denn sie resoniert nicht, mit der Fragestellung.
Musikalisch präsentiert sich „Idiot im Wunderland“ äußerst vielschichtig. Welche Einflüsse spielen für euch eine Rolle?
Das lässt sich gar nicht so einfach beantworten, ehrlich gesagt. Ich glaube die größte Rolle spielt die Idee, sich grundsätzlich im Schreibeprozess erstmal nicht selbst einzuschränken, bzw. Anstöße die erstmal vielleicht total absurd klingen auszuprobieren und zu gucken was sich damit machen lässt. Dadurch kommt am Ende halt ein Haufen Unsinn bei rum, aber immer mal wieder auch sehr Brauchbares. Und wenn man halt der Meinung ist, dass ein Breakdown in ein Swingstück mit rein soll, dann macht man das einfach, Genregrenzen sind halt auch nur zum übertreten da.
Und wenn man diese Idee mit vielschichtigen Musikgeschmäckern von fünf Menschen paart, kommt da sowas wie unser Album bei rum.
Welche Rolle nimmt „Idiot im Wunderland“ im Kontext eures Gesamtwerkes ein?
Das ist eine unglaublich schwere Frage, denn wir hoffen, dass wir noch nicht fertig sind. Aktuell ist „Idiot im Wunderland“ das Zentrum unseres Gesamtwerks, denn es ist, aus unserer nicht sehr bescheidenen Sicht, mit Abstand die beste und pointierteste Veröffentlichung, die wir bisher gemacht haben.
Wir wünschen uns aber, dass „Idiot im Wunderland“ der Anfang dessen ist, was wir irgendwann als unser musikalisches Lebenswerk bezeichnen werden und, wie alle vorherigen Veröffentlichungen, mit etwas Abstand, ein notwendiger Schritt zur Entwicklung von etwas Größerem ist.
Wir lieben das Leben und wir lieben die Musik und sind uns sicher, dass wir gerade erst angefangen haben, das zu erkunden, was in uns steckt- Uns ist bewusst, dass wir jung und dumm sind und vieles was da noch kommen möge von einer höheren Qualität sein wird, weil wir uns weiterentwickeln und lernen und uns die Türen, die sich dadurch öffnen, derzeit noch verschlossen sind. An dem Punkt, wo wir uns selbst reproduzieren, bitte informiert uns, dann ist es Zeit, sich neuen Projekten zuzuwenden.
Gibt es bereits Projekte oder Pläne, wie es mit dem Waldgeist-Kartell weitergeht?
Hasta la victoria siempre!
Für den Moment werden wir hauptsächlich Live unser Programm aufführen und hoffentlich sehr bald wieder einen Haufen Konzerte spielen, neue Menschen treffen, die uns inspirieren und berühren und neue Erfahrungen sammeln.
Wir verstehen uns in aller erster Linie als eine Liveband und wir lieben es mehr als alles andere, auf der Bühne zu stehen und Musik zu machen, die hoffentlich ihrerseits berührt und inspiriert.
Aktuell gibt es keine Albumpläne, Texte für neue Lieder sind aber bereits wieder geschrieben und früher oder später wird es auch neue Musik von uns geben. Wenn es nach Texter Benno geht, gibt es irgendwann auch eine Fortsetzung von „Idiot im Wunderland“, „Wunder in Idiotia“, aber aktuell gibt es dafür keine konkreten Pläne und wir sind mit den Unkosten und Mühen vom letzten Album sicher auch noch eine Weile beschäftigt.
Fühlt euch frei zu ergänzen, was euch für dieses Album oder eure Arbeit als Musiker wichtig ist.
Wir möchten, dass euch bewusst ist, falls euch unsere Musik gefällt, ihr keine bloßen Konsumenten seid, sondern euch alle Möglichkeiten offenstehen, etwas Ähnliches und hoffentlich Besseres zu erschaffen und unsere Aussagen zu nutzen, um euch selbst und die Welt ein bisschen besser zu verstehen.
Wenn euch unsere Kunst berührt, spiegelt es etwas in euch, das immer da war und durch uns nur angestoßen, keinesfalls aber neu erschaffen wird.
Wenn ihr auf uns, als eher unbekannte Band, stoßt, gibt es vermutlich eine Synchronität zwischen eurem Erleben und unseren Inhalten. Wir haben keinen Anspruch Hollywoodkino zu sein, das diese Trigger zwar bewusst bedient, aber eine künstliche Grenze zwischen dem Gesehenen und dem Leben des Publikums zieht.
Wir wollen motivieren und inspirieren, selbst aktiv zu werden.
Als Künstler, als Menschen, als Rebellen, als Liebende, als was auch immer ihr euch sehen mögt. Die Hauptsache ist, ihr nutzt uns nicht dafür, euch einen kleinen Moment lang zu unterhalten und dann alles wieder so zu machen, wie immer, sondern als Inspiration, über euch hinauszuwachsen, ins Risiko zu gehen und verdammt noch Mal jedem, der euch erzählt, ihr solltet besser den Kopf einziehen und ein reguläres Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Norm führen, einen Ausdruck eurer Liebe und Freiheit entgegenzusetzen und damit durch den grauen Schleier des Zynismus durchzubrechen.
Wenn wir uns etwas von euch wünschen dürfen, dann lebt euer Leben so, dass es eine Inspiration für Andere ist und folgt dem Ruf eures Herzens, nicht dem des geringsten Widerstands und der Konformität.
Vielen Dank für Eure Zeit und die ausführlichen Antworten!
Folgt dem Waldgeist-Kartell auf: