Wie setzt man bloß Gedichte von Kurt Tucholsky um? Eine Frage, angesichts derer sich der eine oder andere verlegen aus der Affäre ziehen wird oder die ggf. aufgrund schulischer Erinnerung die Schamesröte ins Gesicht treibt. Nicht so der Stendaler Band Nobody Knows.
Weiterentwicklung, Spaß, Anspruch und Nonkonformismus sind seit jeher Attribute der Band. Da wundert es nicht, dass sie nun mit ihrem aktuellen Album Drei Minuten Gehör Lyrik und Musik vereinen und dabei in Zusammenarbeit mit dem Theaterschauspieler und Sänger Bernd Marquardt und der Gastmusikerin Tabiha Harzer ein Kunstwerk aus Sprache, Melodie und Lesung schaffen.
Das 22 Titel umfassende Werk widmet sich, neben den ebenso von anderen Musikern vertonten Klassikern wie Augen in der Großstadt und Mutters Hände, auch den weniger bekannten Texten des wohl bedeutendsten, engagiertesten und meistgelesenen Autor zur Zeit der Weimarer Republik. Nicht jedes Werk wird dabei in seiner Ursprünglichkeit belassen und es finden sich an einigen Stellen Nuancen künstlerischer Freiheit wie im gelesenen Gedicht Ideal und Wirklichkeit. Hier wird die Kernaussage des Textes musikalisch zwischen jeder Strophen wiederholt und der Frust über erwartetes und nicht erreichtes kurzerhand mit zunehmend (gespielter) alkoholisierter Stimme vertont. Augen in der Großstadt erfährt hingegen durch die Umsetzung eines Musikvideos eine andere Perspektive. Ursprünglich eine Darstellung menschlicher Isolation innerhalb von Großstädten bekommt das Gedicht durch seine musikalische Interpretation und dem Video einen anderen Blickwinkel und eine Idee für den besonderen Moment.
Bei neun komplett vertonten Gedichten im ersten Teil des Albums, einem Instrumentaltitel als Übergang und zehn Lesungen mit musikalischer Unterstützung im zweiten Teil, fällt es schwer sich für ein Lieblingsstück zu entscheiden und drei Minuten Gehör reichen beileibe nicht aus. Wenn die Igel in der Abendstunde und der Graben werden zudem sowohl von Max Heckel als auch von Bernd Marquardt gesungen. Bei all der künstlerischen Freiheit gelingt es dennoch bei jedem der Stücke den ursprünglichen Gedanken Tucholskys treffend zu interpretieren. Berührend und nachdenklich in Der Graben, überraschend und frech in Wahre Liebe.
Um auf meine anfängliche Frage zurückzukommen: Es wird sicher geholfen haben, dass der ehemalige Germanistikstudent Max Heckel nicht nur eine große Affinität zur deutschen Sprache hat und all seine Bandkollegen den Begriff der Offenheit allzu gerne praktizieren. Es bedarf ebenso auch einer gehörigen Portion Wahrnehmung, Sensibilität und kompositorischen Könnens, um am Ende ein Album abzuliefern, das eben nicht den Schülern unter uns ein weiteres Gähnen entlockt.
Stets mit einer Note Schalk im Nacken verpackt die Band die unterschiedlichen, den aktuellen Zeitgeist treffenden und teilweise auch schwierigen Themen, gewohnt in kurzweiliger und dennoch anspruchsvoller Unterhaltung. Die warme und auf den Punkt interpretierende Stimme des Sprechers Bernd Marquardt nimmt man fast schon wie selbstverständlich als perfekte Besetzung war.
Wirft man also all diese Komponenten in einen Topf, entsteht ein Album, das gleichsam zeitgemäß, bildend und unterhaltend ist. Ein Album, das es versteht mit Leichtigkeit auf den Saiten fremder Seelen zu spielen und dabei dem eigenen Anspruch an Entwicklung immer wieder gerecht wird.
Titelliste:
- Augen in der Großstadt
- Singt ener uffn Hof
- Wahre Lieber
- Mutters Hände
- Park Monceau
- Der Graben
- An das Publikum
- Das Lied vom Kompromiss
- Wenn der Igel in der Abendstunde
- Drei Minuten Gehör
- Danach
- Die Herren Zuhörer (Auszug)
- Media in vita
- Das Ideal
- Das Ideal und Wirklichkeit
- Aus!
- Ein älterer, aber leicht besoffener Herr
- Aufgewachsen bei
- Zur soziologischen Psychologie der Löcher
- Jener Tag
- Der Graben (feat. Bernd Marquard)
- Wenn der Igel in der Abendstunde (feat. Bernd Marquard)
Eine so runde Besprechung! Die mich ziemlich genau da abholt, wo ich angesichts des Albums bin.
Auf ganz bald, liebe Cera